Bild: Alina Grubnyak unsplash.com
von Stefan Willuda
24.08.2020
In den letzten zehn Jahren haben wir Komplexität als Realität unserer Arbeitsumgebung konstatiert, teilweise beklagt aber doch größtenteils anerkannt. Dabei ist es keineswegs so, dass die Komplexität in dieser Zeit sprunghaft gestiegen ist, vielmehr ist die Akzeptanz dieses Umstands gestiegen. Mit der Integration von Methoden und Praktiken der agilen Produktentwicklung versuchten Organisationen der Komplexität Rechnung zu tragen, vielerorts ohne signifikanten Nutzen für die einzelnen Menschen und die Organisationen als Ganzes. Die schon längst begonnene Zukunft fordert mehr Konsequenz bei der Gestaltung von Organisationen. Die nun zu meisternde Aufgabe lautet: Konsequente Dezentralisierung.
Mein Beitrag zur BlogParade des PMCamp 2020 (#AchtungZukunft)
Wieder eine Pendelbewegung?
Gab es das nicht schon einmal? Auf die Dezentralisierung folgt die Zentralisierung, auf die dann wieder die Dezentralisierung folgt? Mit jeder Welle der Berater, die seit den 90er Jahren in die Unternehmen schwappte, änderte sich auch die “Marschrichtung” des zu erreichenden Organisationsdesigns. Diese Pendelbewegungen waren stets Ausdruck des gleichen Dilemmas, das in der Komplexität und Marktdynamik seinen Ursprung findet. Doch dieses Mal ist es endgültig. Wir haben es mit einem Trend zu tun, der sich so lange nicht umkehrt, wie die Globalisierung und die Vernetzung von Marktteilnehmern voranschreitet.
Komplexe Märkte belohnen anpassungsfähige Unternehmen, die trotz der hohen Anpassungsfähigkeit auch noch stabil sind. Stabil in der Qualität, in der Lieferung des versprochenen Kundenwerts und in der Fähigkeit auch in Zukunft zu innovieren. Klingt nach der Quadratur des Kreises? Nicht nach neuen Maßstäben. Heute ist das einfach nur der Standard.
Lange Zeit wurden Organisationen ohne die Berücksichtigung des Kontextes “designed”. Hochrangige “Führungskräfte” eines Unternehmens schauten in das Unternehmen hinein und organisierten dieses anhand interner Kriterien neu. Bereiche wurden geteilt, Stabsstellen wurden geschaffen und Posten besetzt. Doch ist dieses Vorgehen nicht mehr zweckmäßig. Inzwischen fordert der externe Kontext, also das Marktumfeld einer Organisation, konsequent Beachtung. Wie stabil ist der Markt wirklich? Wie sicher lässt sich die Zukunft vorhersagen? Wie viel Anpassungsfähigkeit wird schon heute von der Organisation gefordert?
“Die Organisation” gibt es nicht mehr
Einige Unternehmen blicken schon heute der Realität ins Auge und erkennen, dass unter dem Dach des Firmennamens viele Geschäftsmodelle parallel existieren. Sie gestalten sich entsprechend der Geschäftsmodelle unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Reife um. Modelle der Evolution, die aus der Biologie bekannt sind, finden als Rahmen für Gestaltungsentscheidungen Anwendung. Es versteht sich inzwischen von selbst, dass ein Geschäftsmodell, das gerade nach “Product-Market-Fit” sucht eine völlig andere Organisationsform benötigt, als ein reifes Geschäftsmodell, dass effizient “ausgemanaged” wird. Die 2x2 Matrizen der klassischen Strategieberatung sind ungeeignet, diese Realität adäquat abzubilden. Deshalb können diese auch nicht als Grundlage von Gestaltungsentscheidungen herangezogen werden.
Da die Lebenszyklen von Geschäftsmodellen sich verkürzen, steigt die Notwendigkeit für ein Organisationsdesign, das die Neuheitenentwicklung unterstützt. Die viel zitierten interdisziplinären Teams, die eigenständig Zugang zum Markt haben, gewinnen immer weiter an Bedeutung. Gleichzeitig müssen die evolutionären Phasenübergänge systematisch gestaltet werden.
Da in den allermeisten Unternehmen zeitgleich mehr als ein Geschäftsmodell verfolgt wird, ergibt sich zwangsläufig die Notwendigkeit viele Organisationsdesigns innerhalb des Rechtskonstrukts “Unternehmen” zu erhalten. Wer nach einem dazu passenden Buzzword sucht, wird in Ambidextrie fündig.
Fast die gesamte Wertschöpfungskette wird “Commodity”
Die Effekte einer sich beschleunigenden Evolution sind entlang der gesamten Wertschöpfungskette wahrnehmbar. Globalisierter Wettbewerb treibt die “Commoditization” voran. Sinkende Betriebskosten in der Wertschöpfung und steigender Preisdruck sind die Folge. Zum anderen erlaubt dies neuen Wettberwerbern ohne große Investitionen (etwa in ein Rechenzentrum oder in einen Vertrieb) in das Spiel einzusteigen. Völlig selbstverständlich nutzen diese kleinen und beweglichen „Angreifer“ standardisierte Komponenten der eigenen Wertschöpfungskette und liefern damit Wert, der bis vor kurzem noch ausschließlich großen Playern vorbehalten war. Wer für diesen Trend nach Beispielen sucht braucht lediglich auf die Möglichkeiten gucken, die Cloud Computing (AWS, Azure), Payment Provider (Stripe), Webshop as a Service (Shopify) oder gar Banking Plattformen (Solaris Bank) geschaffen haben.
Da mit hochstandardisierten Produkten und etablierten Geschäftsmodellen bei gleichbleibend hohem Wettbewerb nur geringe Margen erzielt werden können, steigt der Druck zur “Innovation” (Genesis). Das stellt Organisationen, die die Anpassungsfähigkeit nicht zu einer Kernfähigkeit entwickelt haben, vor schier unlösbare Herausforderungen, die innerhalb der Organisation zu großen Spannungen führen.
Dezentralisierung als Ausweg
Wenn Geschwindigkeit und Anpassungsfähigkeit von Organisationen auch weiterhin gefordert sind, hat das Konsequenzen. Zentrale Steuerung und gar Kontrolle ist zu langsam für diese Anforderung. Die Dezentralisierung wird deshalb in den nächsten Jahren die große Herausforderung der Organisationen werden, wenn sie es nicht schon längst ist.
“Zentrale Koordination ist ein Luxus, der in hoher Dynamik unerschwinglich wird.” Niels Pfläging *
Die Stadt gilt gelegentlich als Vorbild für eine dezentralisierte Organisation. Auch wenn dieses Bild zu kurz springt deutet es in die richtige Richtung. — Photo by Anastasia Dulgier on Unsplash
Aktive und kontinuierliche Veränderungsgestaltung wird die Norm
Dezentralisierung von Organisationen ist konsequente “Arbeit am System”. Das verändert den Arbeitsauftrag für “Führungskräfte” auf allen Ebenen. Vorbei ist die Zeit, in der an den Menschen in der Organisation “herumgedoktert” wurde. Die Interaktion der Menschen miteinander zum Zwecke der Wertschöpfung für andere steht nun im Mittelpunkt. Die Ausrichtung der dezentralisierten Organisationseinheiten erfolgt direkt auf die Kunden und deren Bedürfnisse. Dabei ist das jeweilige Geschäftsmodell und der Stand der Evolution desselbigen zu beachten.
Gestaltungsansätze wie “Zellstrukturdesign” unter Wahrung der “12 Gesetze des Beta-Kodex” zeigen, wie eine dezentralisierte Organisation aussehen und betrieben werden kann. Deutlich wird jedoch auch, dass hier jedes Unternehmen seine eigenen Antworten immer wieder neu wird finden müssen. Und auch die Vorstellung, dass diese Neugestaltung der Organisation als zentrales Organisationsprojekt durchgeführt werden kann, ist eine Illusion. Vorgehensmodelle wie “Open Space Beta” zeigen eindrücklich, wie effektiv und auch effizient die Dezentralisierung gelingen kann, wenn diese selbst dezentralisiert durchgeführt wird und auf die “Weisheit der Vielen” setzt. Gleichzeitig machen diese Ansätze deutlich, dass es ein ganz ernsthaftes Anliegen von “Führungskräften” mit Autorität sein muss, diese Dezentralisierung zu ermöglichen und zu gestalten, andernfalls wird die Leistungsfähigkeit des Unternehmens durch schwelende und ungelöste Konflikte geschwächt.
Die Komplexität im Inneren einer Organisation muss mit der Komplexität im Markt mithalten, andernfalls wird das Unternehmen irgendwann von den Kunden und von den Wettbewerbern abgehängt. Damit ist es nicht länger die Frage, ob so viel anstehende Veränderung überhaupt gehen kann, sondern nur noch wie.
Teams. Nicht einzelne Menschen
Wertschöpfung ist schon heute in den Organisationen eine Leistung vieler. Auch wenn sich in einigen Unternehmen noch immer die Mythen einsamer Helden erzählt werden, so bleiben es eben doch Mythen. Alle Organisationen leisten Mannschaftssport. Es ist damit an der Zeit die Teams konsequent in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Viele Unternehmen haben schon verstanden, dass individuelle Ziele und Bonussysteme dazu nicht passen und nur zur Schwächung der Unternehmung führen. Es geht darum sowohl organisatorisch als auch infrastrukturell Teams zur autonomen Wertschöpfung mit direktem Kundenbezug zu befähigen. Dazu gehört auch die konsequente Ausbildung von nützlichen zentralen Plattform-Leistungen, die so gut und passgenau sind, dass diese von den Teams freiwillig “gekauft” werden.
Das Zellstrukturdesign bietet einen praktischen Rahmen für die Gestaltung von dezentralisierten Organisationen — Quelle Niels Pfläging
Formell autorisierten Managern kommt in diesen Organisationen die Aufgabe zu, sich konsequent mit den eigenen Geschäftsmodellen und deren Wertströmen unter dem Einfluss fortwährender Evolution zu befassen und konsequent die Rahmenbedingungen für die wertschöpfenden Teams zu verbessern.
Diese konsequente Dezentralisierung hat natürlich Folgen für die Art, wie finanzielle Mittel verwendet werden. Die Teams, die in der direkten Interaktion mit den Kunden Geld verdienen, haben auch die Hoheit über die Verwendung der erwirtschafteten Mittel. Das verändert natürlich auch Machtstrukturen innerhalb der Organisationen.
Zentrale Verschwendung wird verschwinden
Organisationen werden sich intensiv mit der Frage auseinander setzen, welche erbrachten Leistungen den Kunden dienen und welche wiederum den Menschen im Unternehmen. Leistungen, die allen oder vielen im Unternehmen dienen, werden als interner Plattformbetrieb zentral — als Angebot, nicht als Zwang — betrieben. Teams, die unmittelbar Wert für die Kunden schaffen können die zentralen Angebote nutzen oder sich selbst über Angebote aus dem freien Markt versorgen. Der heute noch so weit verbreitete Abnahmezwang von zentralen Leistungen wie “Controlling” oder “IT-Service” entfällt. Nur wenn die internen Angebote den externen Angeboten überlegen sind, werden diese von den Teams bezogen.
Dabei ändert sich der Plattformbegriff grundlegend. Die Plattform ist kein technischer Begriff mehr. Ziel der zentralen Plattformen ist es möglichst einfache und standardisierte Angebote, die vielen Teams im Unternehmen dienen, aufzubauen und zu betreiben. Eine interne Plattform-Leistung, die von den Teams nicht freiwillig genutzt wird, stirbt. Innerhalb kürzester Zeit wird sich, bei konsequenter Anwendung dieses Gestaltungsprinzips, die lange im Zwang getarnte Verschwendung auflösen.
Nur die Spitze des Eisbergs
Wie bei jeder grundlegenden Veränderung werden wir Organisationen erleben, die sich mit großer Ernsthaftigkeit daran machen diese unausweichliche Veränderung zu gestalten und für sich zu nutzen. Gleichzeitig — und auch das kennen wir schon — werden wir Unternehmen erleben, die diesen starken Trend negieren und auszusitzen versuchen. Doch ist der Trend nicht aufzuhalten. Und wie immer im Komplexen sind die Folgen dieser Veränderung nicht vollständig absehbar. Klar ist jedoch, die in diesem Blog Post skizzierten Entwicklungen sind lediglich die Spitze des Eisbergs.
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Weiterführende Quellen
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