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Die dringend benötigte Renaissance von “agile” wird es in Alpha Organisationen nicht geben.

“Agilität” gelingt nur mit Beta

Wendige und anpassungsfähige Organisationen erfordern konsequente Dezentralisierung sowie ernsthafte funktionale Integration.

von Stefan Willuda
06.03.2021

Weltweit werden wir Zeuge scheiternder “agiler Transformationen”. Wir erleben, wie agile Initiativen in sich zerfallen oder abrupt für beendet erklärt werden. Agile Produktentwicklungsteams (z.B. Scrum-Teams) enttäuschen unisono die in sie gesteckten Hoffnungen. Mehr als zwanzig Jahre nach der Verkündung des agilen Manifests bescheinigen viele Menschen der agilen Bewegung und damit der gesamten agilen Idee, dass sie tot oder zumindest im Niedergang begriffen ist. Vielerorts bleibt Frustration und Zynismus zurück, wo man sich vor wenigen Jahren noch auf dem Weg in die Zukunft wähnte. Und obwohl auch ich in den Tenor tiefer Enttäuschung einstimme und den drastischen Abbau von Scrum-Master- und Agile-Coaching Stellen, als Folge dieser Enttäuschung, in immer mehr Unternehmen erkenne, widerspreche ich vehement der verbreiteten Schlussfolgerung, dass “agil” tot ist. Im Gegenteil: Die agile Bewegung hat noch nicht einmal richtig begonnen. Es gibt schlicht keine Alternative zu adaptiven, schnellen und dynamikrobusten Organisationen, die für die bleibende Komplexität der Welt gemacht sind. Um jedoch einen nennenswerten Beitrag leisten zu können, müssen agile Prinzipien und Praktiken in Organisationen eingebettet werden, die die “Command-and-Control”-Hybris hinter sich lassen und diese durch Organisationsprinzipien ersetzen, die in die zurückgekehrte Zeit der Komplexität passen.

Dieser Blog Post stellt Ansätze vor, die tatsächlich geeignet sind, zu adaptiven Organisationen zu gelangen. Als ersten Schritt dorthin genügt es schon, die Perspektive auf das, was wir “Organisation” nennen, leicht zu ändern.

 

Dieser Text ist eine Übersetzung des in englischer Sprache erschienenen Blog Posts “Only in Beta you can ever be ‘agile’”.

 

Es ging doch nie um “Agilität”

Ich mache mir nichts aus der “agilen Bewegung”. Obwohl ich derzeit als Agile Coach arbeite, berührt mich der Wirbel, der in der Community gemacht wird, kaum. Denn es geht überhaupt nicht um “Agilität”, ging es nie. Die agile Community verfehlt ihren Zweck, denn sie versucht agile Praktiken in Organisationen zur Wirkung zu bringen, die sich dadurch im Kern gar nicht verändern. All die fortwährend neu erfundenen Schlagworte (wie ‘New Work’) als Pseudo-Nachfolger der teambasierten ‘agilen’ Rahmenwerke machen nicht den geringsten Unterschied. Sie erzeugen lediglich immer neue Schichten agiler Bürokratie in den ohnehin schon sklerotischen Organisationen.

Doch auch wenn mir die “agile Bewegung” nicht viel bedeutet, liegen mir adaptive, anti-fragile Organisationen am Herzen, die die Welt zu einem besseren Ort machen, indem sie einen positiven Unterschied für ihre Kund:innen, ihre Mitarbeiter:innen und die Gesellschaft als Ganzes machen. Es wird niemals eine humane globale Wirtschaft geben, wenn Organisationen fehlen, die auf das Wohl aller Netzwerkpartner und auf die globale Umwelt ausgerichtet sind. Und obwohl die agile Bewegung bisher nicht viel zur Verbesserung der allgemeinen Anpassungsfähigkeit von Organisationen beigetragen hat, ist diese Reise noch nicht zu Ende. Sie wird weitergehen. Doch bedarf es eines entscheidenden Richtungswechsels. Dieser Wechsel wird ohne Zweifel zu “Beta” führen (Organisationen, die auf dem Beta-Kodex aufbauen) und die hoffnungslosen Versuche überwinden, “Alpha-Organisationen” (formal-hierarchische Management- und Kontrollstrukturen) durch Prinzipien und Praktiken “agiler” zu machen.

Es wird niemals eine humane globale Wirtschaft geben, wenn Organisationen fehlen, die auf das Wohl aller Netzwerkpartner und auf die globale Umwelt ausgerichtet sind.

Falls die Unterscheidung von Alpha- und Beta-Organisationen nicht geläufig ist: In diesem Beitrag gibt es die Schnellstart-Informationen und in dieser umfassenden Präsentation von Niels Pflaeging wird es noch konkreter.

Blicken wir gemeinsam darauf, warum ich die Einführung agiler Praktiken in Alpha-Organisationen als ein aussichtsloses Unterfangen bezeichne.

Bislang hatte “agile” keine Chance, abzuheben

Rückblickend ist es traurig, dass der Fokus des agilen Manifests so eng auf die Software Entwicklung gefasst wurde. Noch trauriger ist es, dass dessen Fokus nicht erweitert wurde, nachdem man seine universelle Relevanz erkannt hatte. Diese reduzierende Perspektive auf Softwareentwicklungsteams ist per se nicht problematisch. Problematisch wird es jedoch, wenn der Eindruck entsteht, dass die Teams innerhalb einer Organisation das zu bearbeitende Problem sind und dass, wenn man die Teams “repariert”, auch die Gesamtorganisation profitieren wird. Dies ist ein Irrglaube mit schwerwiegenden Folgen. Überall auf der Welt begannen Trainer, Berater und Agile Coaches, Teams zu “optimieren”, in der falschen Hoffnung, damit etwas universell Gutes zu tun. Doch schon bald wurde klar, dass dieser Team-besessene Ansatz keine agilen Organisationen hervorbringen wird (auch wenn das oft behauptet wurde). Doch anstatt die zunehmend erdrückende Beweislage als Weckruf zu verstehen, den in die Irre geratenen Weg zu überdenken, entstanden Skalierungsrahmenwerke. Mit mehr Verve passierte im entstehenden “agile Industriekomplex” [1/2/3] mehr vom Gleichen — noch immer mit der Behauptung, die teamübergreifende Zusammenarbeit zu verbessern. Leider wurden die zugrundeliegenden Annahmen darüber, was Organisationen sind, wie visuelle Modelle von Organisationen aussehen und wie Organisationen Werte für Kund:innen schaffen, von den Treibern dieser “agilen Industrie” nicht in Frage gestellt. Wir waren alle viel zu sehr damit beschäftigt, Gewinn aus dieser universellen Organisationskrise zu schlagen, während wir die Organisationen, die wir zu unterstützen vorgaben, immer tiefer in den Schlamm ritten.

Und obwohl es spät für ein Einlenken ist, ist es nicht zu spät. Es ist an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten und einige grundlegende Annahmen zu hinterfragen, die uns in diesen Schlamassel gebracht haben.

Betrachten wir einige der Meta-Prinzipien, die uns die agile Gemeinschaft mit dem Ziel der organisatorischen Anpassungsfähigkeit zu Recht gebracht hat und untersuchen, warum diese bisher keine große Wirksamkeit entwickelt haben. Dabei erforschen wir auch, unter welchen Umständen dieselben Prinzipien ihre transformatorische Kraft entfalten werden.

Meta-Prinzipien einer agilen Organisation

  • Ein kleines Team besitzt ein Produkt oder eine Dienstleistung “Ende-zu-Ende”
  • Jedes Team kann unabhängig von anderen Teams Wert schaffen
  • Kund:innen und deren Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt aller Bemühungen
  • Kontinuierliches und schnelles Marktfeedback garantiert ständige Verbesserung
  • Teams optimieren ihre Arbeitsweise für Flow und kontinuierliche Wertgenerierung

Ein kleines Team besitzt ein Produkt oder eine Dienstleistung “Ende-zu-Ende”

Dieses Prinzip klingt sehr eingängig. Und dennoch habe ich in all meinen Jahren als Unternehmensberater und als Agile Coach kein einziges Team innerhalb einer größeren Organisation gesehen, das wirklich ein Produkt besaß. Dieses wichtige Meta-Prinzip wurde in der Praxis einseitig ausgelegt und im Bereich der Informationstechnologie geparkt. Viele Teams erhielten das “Eigentum” am Code des Software-Produkts, an der Entwicklungs- und an der Produktionsumgebung. Es wurden viele Refactoring-Anstrengungen unternommen, um der Idee der “End-to-End-Verantwortung” gerecht zu werden. Doch besaß keines dieser Teams das Produkt. Die Teams hatten selten die Befugnis, Preisentscheidungen zu treffen, eine andere Kund:innengruppe anzusprechen oder wesentliche Produktänderungen vorzunehmen, ohne vorher um Erlaubnis fragen zu müssen. Und was noch wichtiger ist: Keines dieser “agilen” Teams verdiente auch nur einen einzigen Euro an den Einnahmen ihrer Produkte. Die meisten von ihnen kannten nicht einmal die Einnahmen, Ausgaben und Gewinne des Produkts, das sie “besaßen”. Ehrlich gesagt, waren diese Teams nie mehr als zentral überwachte Entwicklungs- und Wartungsteams. Die Bindung an zentrale Command-and-Control Strukturen wurde nie gekappt. Die Autonomie der Teams war immer nur vorgetäuscht. Schnelle, gut informierte und marktorientierte Entscheidungsfindung hat sich innerhalb dieser Teams nie entwickelt.

Nahezu jedes agile Team, das ein Produkt “besitzt”, ist im Grunde ein zentral überwachtes Entwicklungs- und Wartungsteam.

Es ist nicht verwunderlich, dass die mit “agile” assoziierte und erwartete Geschwindigkeit und Anpassungsfähigkeit sich nicht entwickelte. End-to-End-Verantwortung ist nicht etwas, das auf der Code- oder Infrastrukturebene aufhört. Ich finde es wirklich schade, dass auch die wunderbare DevOps-Bewegung es nicht vermochte, die Perspektive umfassend zu erweitern. Natürlich schließt “End-to-End” die Wirtschaftlichkeit eines Produkts ein. Andernfalls bleiben den Teams wichtige Informationen verborgen, was beim zentralen Management den Eindruck erweckt, dass die Teams das Gesamtbild nicht verstehen und deshalb zentral überwacht und kontrolliert werden müssen. Das ist eine traurige Verkehrung von Ursache und Wirkung. Mit anderen Worten: Sobald ein Team ein Produkt vollständig besitzt, ist zentrale Managementkontrolle verzichtbar. Da aber kein Team in einem größeren Unternehmen tatsächlich etwas besitzt, wird es zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, dass das Management die Geschicke der Teams lenken muss.

Ende-zu-Ende-Verantwortung ist nicht etwas, das auf der Code- oder Infrastrukturebene aufhört.

Jedes Team kann unabhängig von anderen Teams Wert schaffen

Inkonsequentes Denken führte in fast allen Unternehmen rund um den Globus zu vielen Kompromissen bei der Anwendung dieses Meta-Prinzips. Obwohl es anerkannt wurde, verkam es in der Praxis recht schnell zu einem Sehnsuchtsort. Es schien zu mühsam, die verstrickten funktionalen Abhängigkeiten zu entwirren. Folglich mussten sich “agile” Teams mit fragmentierten “Produkten” herumschlagen, die oft nicht mehr als technische Komponenten waren. Wann immer ein Team etwas Großes und Bemerkenswertes für die Kund:innen entwickeln wollten, löste dies eine Lawine von Abhängigkeiten aus, die eine zentrale Koordination, Priorisierung und Planung erforderlich machten. Kein Wunder, dass sich viele Teams mit kleinen Änderungen, die sie unter Kontrolle hatten, zufrieden gaben. Das zentrale Management erkannte diese Anpassung des Teamverhaltens und kam zu dem Schluss, dass signifikante Produktänderungen eine übergeordnete Roadmap, eine zentrale Planung und Rollout-Pläne benötigten, um alle Teams “auszurichten”. Und schon verschwand die unabhängige Wertgenerierung von “agilen” Teams aus der unternehmerischen Praxis.

Nahezu keine “agile Transformation” hat wirklich funktional integrierte Teams geschaffen.

Es handelt sich auch hierbei um einen Management-Fehlschluss. Sehen wir uns viele der sogenannten “agilen Transformationen” genauer an, erkennen wir, dass durch diese Veränderungsarbeit selten wirklich funktional integrierte Teams geschaffen wurden. Oft wurde diese Transformation sogar lediglich in einer einzigen Funktion (z.B. in der IT) vollzogen. Kein Wunder, dass eine unabhängige Wertschöpfung unerreichbar war. Dieses ernüchterne Ergebnis invalidiert jedoch keineswegs das Prinzip der team-autonomen Wertschöpfung. Im Gegenteil. Vielmehr wird klar, dass die Überlegungen, wie diese Unabhängigkeit der Teams in Bezug auf die Wertschöpfung zu erreichen sind, deutlich ernsthafter, deutlich konsequenter sein müssen, um Wirksamkeit zu entfalten. Sozialtechnologien wie Zellstrukturdesign und Open Space Beta statten uns mit allem aus, was es braucht, um dieses Prinzip endlich zum Leben zu erwecken. Es gibt keine Ausreden mehr.

Kund:innen und deren Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt aller Bemühungen

In der Praxis hat sich dieses Prinzip in ein verheerendes Lippenbekenntnis verwandelt, das Zynismus fördert, die Aufmerksamkeit von Teams und Organisationseinheiten zerreißt und tiefes Misstrauen zwischen Kund:innen und vielen großen Organisationen geschaffen hat. Während man von Kund:innenfokus und Nutzerzentrierung spricht, lenken wertvernichtende Managementpraktiken die Aufmerksamkeit der Teams nach innen (in die Organisation — weg von den Kund:innen, die sich außerhalb der Organisation befinden). Wegen des fehlerhaften mentalen Modells einer Wertschöpfungsorganisation (visuelle Repräsentation) und aufgrund der oben beschriebenen erodierenden Effekte, sind Teams (oft nur funktionale Abteilungen) gezwungen “Stakeholder-Erwartungen” zu managen, sich auf übergreifende Roadmaps zu konzentrieren oder stumpf das zu tun, was ihnen Führungskräfte mit formeller Autorisierung sagen. Und Teams, die tatsächlich echte Marktsignale erhalten, müssen diese gegen von Anreizsystemen oder formellem Druck geschaffene Handlungsmaximen priorisieren.

Dieser für die Unternehmen hochgefährlichen Entwicklung scheint ein Trugschluss darüber zugrunde zu liegen, wie Organisationen modellhaft aussehen. Oder genauer gesagt, der Gedanke, dass lediglich EINE modellhafte Darstellung einer Organisation existiert. Ein Blick in die Theorie verweist jedoch darauf, dass mindestens drei unterschiedliche visuelle Repräsentationen einer Organisation (die natürlich aus Kommunikation besteht) simultan existieren. Und während sich das Command-and-Control-Management — blind für das Offensichtliche — ausschließlich auf die formelle Organisationsstruktur (die “Hierarchie”) konzentriert, findet die Wertschöpfung für die Kund:innen außerhalb dieser formellen Hierarchie statt.

Ich bin sicher, Sie haben den Satz “der Kunde kümmert sich nicht um Ihre Hierarchie” so oder ähnlich schon einmal gehört. Und während die Organisationstheorie modellhafte Darstellungen für alle drei Organisationsstrukturen — die formelle, die informelle und die Wertschöpfungsstruktur — anbietet, vernachlässigt das traditionelle Management hartnäckig die gute Theorie. Es agiert weiterhin, als gäbe es ausschließlich die formelle Hierarchie.

Die Wertschöpfung findet nicht innerhalb der formellen Hierarchie statt.

Leider scheint ein weiterer systemweiter Fehler echte Kund:innenorientierung in weite Ferne rücken zu lassen: Die Hybris des Top-Managements, dass nur sie wissen, was auf dem Markt vor sich geht, und dass sie daher die Verpflichtung haben, die Organisation mit ihrer formellen Autorisierung zu steuern. Bei diesem fast universellen Managementverhalten scheint eine Menge Ego im Spiel zu sein. Dieses Ego kommt nicht von ungefähr, sondern stammt aus den individuellen “Erfolgsnarrativen”, die sich viele Führungskräfte über ihr Leben erzählen. Wer könnte es ihnen verdenken? Die meisten von ihnen haben hart gearbeitet, um dort zu sein, wo sie jetzt sind. Es erfordert jedoch Demut, die tiefgreifende Tatsache anzuerkennen, dass der Markt und das Kund:innenverhalten “ihr” Unternehmen in einem weitaus größeren Maße steuern als sie selbst. Natürlich kann die Geschäftsleitung oder das Top-Management mit ihrer formellen Autorisierung einen ziemlichen Aufruhr im Unternehmen erzeugen. Doch meist ist dieser Aufruhr eine direkte Folge einer viel zu späten Reaktion auf ein verändertes Kund:innenverhalten. Ich bin sicher, intuitiv sind sich viele Manager dieser Tatsache bewusst. Einige Manager haben vor mir Tränen der Wut und Frustration geweint, weil sie dieses Rattenrennen, bei dem alle verlieren, satt haben. Aber da so viel Ego im Spiel ist, scheint es fast unmöglich, offen anzuerkennen, dass der “Kundenmarkt” schon in den 70er Jahren seinen Tribut gefordert hat und dass das meiste Management, das wir kennen, nur reaktives Theater ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es einen verstärkenden Effekt auf diese verkorkste Situation hat, dass das Top-Management überwiegend männlich ist.

Es erfordert Demut, die tiefgreifende Tatsache anzuerkennen, dass der Markt ein Unternehmen in weitaus größerem Maße steuert als die Manager.

Ein dritter kritischer Aspekt, der eine ernsthafte Kund:innenorientierung behindert, ist die Verwechslung von formeller Autorisierung und Kompetenz. Auch hier scheint die Ursache in der fehlenden praktischen Anwendung von guter Organisationstheorie zu liegen. Eine verzwickte Wirkungskette setzt sich in Gang. Da in Unternehmen nicht zwischen formeller, informeller und Wertschöpfungsstruktur unterschieden wird, ahmen “Karriere”-Wege die einzige Struktur nach, die im Blick ist — die formelle Struktur. Um Karriere zu machen, muss man “eine Leiter hochklettern” und ein Manager werden. Da Menschen Selbstwirksamkeit spüren wollen und sich um Anerkennung bemühen, nehmen sie diese Karriere in Kauf, um gestaltenden Einfluss nehmen zu können. Damit wird jedoch auch die inhaltlich-fachliche Gestaltung mit der formellen Hierarchie verwoben. Formelle Macht mischt sich mit Wertschöpfung. Formelle Autorisierung wirkt damit dort, wo sie nicht hingehört — sie beginnt die Wertschöpfung zu stören. Die Kompetenz, die bei echten Fachexperten liegt, begnügt sich oft mit einem Schattendasein. Folglich beachten Menschen in Organisationen interne Autoritäten, ihre Artefakte der Macht und Kontrolle und ihre “Spielregeln” mehr als die Belange der Kund:innen. Da dieselben Menschen jedoch merken, dass die Kund:innen ungern missachtet werden, schaffen sie gegenüber den Kund:innen Potemkinsche Dörfer, um die Spannungen auszuhalten, die innerhalb dieser inkonsistenten Organisationen unweigerlich entstehen.

Die Kompetenz, die bei echten Fachexperten vorhanden ist, fristet oft ein Schattendasein.

Die oben beschriebenen Effekte der fehlenden Team-Autonomie und der strukturellen Unfähigkeit der Teams, autonom Kund:innennutzen zu generieren, schaden dem Grundprinzip der Kund:innenzentrierung zusätzlich.

Um die viel gepriesene Kund:innenzentrierung als wesentliches agiles Meta-Prinzip doch zur Wirkung kommen zu lassen, werden Top-Manager ihre Egos überwinden und offen akzeptieren müssen, dass der Markt und damit die Kund:innen letztendlich die Kontrolle haben. Dies eröffnet jedoch unmittelbar die Möglichkeit, die Organisation von außen nach innen, ausgehend von den Kund:innen, zu gestalten und die reale Wertschöpfungsstruktur von der Peripherie bis zum Zentrum sichtbar werden zu lassen (unter Vermeidung von Begriffen wie “oben” und “unten”), basierend auf fundierter Theorie unterstützen Sozialtechnologien wie Organisationsphysik und Zellstrukturdesign die klare Unterscheidung zwischen formeller, informeller und Wertschöpfungsstruktur. Dies wiederum eröffnet den Raum, Zusammenarbeitsstrukturen zu etablieren, die ein organisch-fließendes Reagieren auf Marktbewegungen ermöglicht, ganz ohne die Einmischung des Managements. Solche Zusammenarbeitsstrukturen machen die meisten Command-and-Control-Managementpraktiken obsolet und verschafft echten Könnern im Unternehmen Wirksamkeit.

Kontinuierliches und schnelles Marktfeedback garantiert ständige Verbesserung

Obwohl dieser Evergreen der agilen Produktentwicklung eigentlich auf ganze Organisationen angewendet werden sollte, geschieht das nur selten effektiv. Vor dem Hintergrund der obigen Betrachtungen wird deutlich, dass die Voraussetzungen für schnelle und unmittelbare Reaktionen auf Marktfeedback in fast allen größeren “agilen Unternehmen” nicht gegeben sind.

Wir unterscheiden in der Wertschöpfungsstruktur die Peripherie, die Kontakt zum Markt hat und das Zentrum, das der Peripherie dient. Die Sphäre der Geschäftstätigkeit trennt die Organisation vom Markt.

Die meisten Manager haben üblicherweise keinen täglichen oder zumindest häufigen Marktkontakt. Das macht das Management — ohne jeden Vorwurf — zu einer Funktion, die — aus der Perspektive der Wertschöpfung — im Zentrum einer Organisation angesiedelt ist. Da jedoch fast alle Organisationen nicht zwischen der formellen Struktur und der Wertschöpfungsstruktur unterscheiden, verwechselt das Management seine formelle Autorisierung mit der Verpflichtung, Entscheidungen im Sinne der Wertschöpfung zu treffen (z.B. wo man Geld ausgibt, welches Produkt oder welche Dienstleistung man anbietet, oder wann man neue Mitarbeiter:innen in das Unternehmen einlädt). Mit anderen Worten: Manager missbrauchen ihre formelle Autorisierung, um sich in die Wertschöpfung einzumischen. Und da die Teams, die Marktkontakt haben, nicht die Autorisierung besitzen, alle geschäftsrelevanten Entscheidungen selbst zu treffen (wie oben gezeigt), müssen Marktinformationen von der Peripherie zum Zentrum der Organisation geleitet werden, um dort — meist recht willkürlich — aggregiert und verdichtet zu werden, um die zentrale Entscheidungsfindung zu unterstützen. Nach einiger Zeit werden Entscheidungen getroffen, die dann an die Teams in der Peripherie zurückgeschickt werden, allerdings oft zu spät, zu wenig oder an der eigentlichen Problemstellung vorbei. Die Teams finden irgendwie einen Weg, sich in dieser Situation durchzuwursteln und ihre Aufgaben einigermaßen zu erledigen. Und da die meisten Wettbewerber des Unternehmens ebenso handeln, ist das für eine gewisse Zeit in Ordnung. Doch steigt der Druck auf diese Teams im laufe der Zeit, vor allem dann, wenn flinkere Konkurrenten beginnen, Kund:innen mit immer höherer Geschwindigkeit abzuwerben. Die Art und Weise, wie Entscheidungsautorisierung in diesen großen Organisationen verteilt ist, macht es praktisch unmöglich, schnell auf Marktsignale zu reagieren.

Manager missbrauchen ihre formelle Macht, um in die Wertschöpfung einzugreifen.

Auch hier entpuppt sich das mentale Modell der “Organisation als Pyramide” als Kern der Unfähigkeit zu schneller Anpassung. Ob Organisationen die simultane Existenz unterschiedlicher Organisationsstrukturen anerkennen oder nicht, sie bleiben eine Tatsache.

Teams optimieren ihre Arbeitsweise für Flow und kontinuierliche Wertgenerierung

Dieses Meta-Prinzip agiler Organisationen scheint klar, ja fast schon über-offensichtlich zu sein. “Na klar! Was denn sonst?!”, schreit die innere Stimme. Doch ist dieses Prinzip anspruchsvoll. Beginnen wir mit der unpopulären Tatsache, dass die meisten sogenannten Teams da draußen lediglich funktional getrennte Abteilungen oder halbherzig funktional integrierte Gruppen von Menschen sind, die — wie oben erwähnt — allein keinen nennenswerten Wert liefern können. Ich selbst habe es aus Gründen der Lesbarkeit vermieden, den Begriff “Team” in diesem Blogbeitrag zu sezieren. Allerdings ist dies ein entscheidender Punkt. Wenn eine Gruppe von Menschen strukturell nicht auf Wertgenerierung ausgelegt ist, sondern nur darauf, einen funktionalen Teil zu einem Ganzen hinzuzufügen, dann können wir nur noch Mikrooptimierungen zwischen beliebigen, in Abhängigkeiten verstrickten Inputs und Outputs erwarten. Das tötet nicht nur das Flow-Erleben und die Selbstwirksamkeitswahrnehmung innerhalb dieser Arbeitsgruppen oder Abteilungen. Es führt auch eine Menge Verschwendung in den Wertschöpfungsprozess ein, die keine Gruppe für sich allein vermeiden kann. Auch hier gilt: Obwohl viele “agile Organisationen” behaupten, funktionale Silos abzureißen, tun sie es nicht, oder sie bleiben inkonsequent in ihren Ambitionen. Das macht die Optimierung für Flow zu einer unmöglichen Aufgabe und erzeugt eine Welle von Management, Regulierung, Überwachung und Command-and-Control.

Obwohl viele “agile Organisationen” behaupten, funktionale Silos einzureißen, tun sie das nicht oder bleiben inkonsequent.

Dabei sind die Bausteine für ein dezentrales Wertschöpfungsnetzwerk innerhalb einer Organisation bereits gut verstanden und offen verfügbar. Zellstrukturdesign, Komplexithoden und Nahtstellenvereinbarungen weisen den Weg zur teambasierten Wertschöpfung. Angewandte “Marktmechanik” erschafft viele lose gekoppelte Wertschöpfungsketten innerhalb einer Organisation, in der Teams effektiv und autonom Flow optimieren können. Das mentale Modell von Peripheriezellen, die direkten Marktkontakt haben, Zentrumszellen, die diese Peripheriezellen bedienen, und das Verständnis, dass der Markt die Wertschöpfung aus der Organisation herauszieht (anstatt dass die Organisation den Wert in den Markt drückt), ermöglicht ein Organisationsdesign, das die Wertschöpfung explizit macht und so die unmittelbare Optimierung derselben vorantreibt. Anstatt dass die Wertschöpfung unter Schichten von Management begraben wird, die sich aus der formellen Organisationsstruktur ergeben, tritt die Wertschöpfung ins Licht. Unnötige formale Bürokratie und Politik werden abgestreift und stören nicht länger die Wertschöpfung. Da jedes (echte) Team — ob in der Peripherie oder im Zentrum — in sich geschlossen Wert liefert (einschließlich der Betriebswirtschaftlichkeit des eigenen Mini-Unternehmens — siehe oben), und da die Marktmechanismen innerhalb einer Organisation vorhanden sind, wird schnell ersichtlich, welches Team wirklich Wert generiert und welches nicht. Sobald diese organisationsweiten Gestaltungsprinzipien etabliert sind, setzt eine zweckmäßige Selbstorganisation ein, die wiederum Verschwendung verdrängt und so “automatisch” Flow auf der Unternehmensebene optimiert. Was wie ein Märchen klingen mag, kennen wir bereits gut in einem anderen Kontext. Wir nennen es den freien Markt.

Wertschöpfung, die unter vielen Schichten von Management begraben ist, muss ausgegraben werden.

Werden diese marktlichen Mechanismen um relative Ziele und bedingtes Einkommen für Teams ergänzt, erhält man eine Transparenz, die Druck zur Verbesserung auf Teams ausübt. Dieser selbst auferlegte Zwang zur kontinuierlichen Verbesserung dient dem Wohle der Kund:innen, der Mitarbeiter:innen und der Eigentümer des Unternehmens.

Pyramiden werden nie agil sein

Wann immer die Organisation als Pyramide visualisiert und der Versuch unternommen wird, an Kästchen im Organigramm herumzufummeln, um eine agile Organisation zu erreichen, sind die Anstrengungen bereits zum Scheitern verurteilt. Die Pyramide wird niemals agil sein. Das kann ich mit 100-prozentiger Sicherheit sagen. Denn Pyramiden und Agilität koexistieren nicht im selben Universum. Agilität und Anpassungsfähigkeit sind Begriffe, die streng auf Kund:innen und einen Markt bezogen sind. Somit haben diese Begriffe ausschließlich eine Bedeutung für die Wertschöpfung. Doch ist die Pyramide — also die formelle Struktur —eine völlig andere Betrachtungsebene als die Wertschöpfungsstruktur. Die formelle Struktur existiert im Bereich der Compliance und nur dort. Es ist nichts falsch an der Pyramide, wenn diese nicht dazu beiträgt eine “agile Organisation” zu sein. Das soll sie auch nicht tun. Wer wäre wütend auf eine Hochseeyacht, die in der Sahara-Wüste stillsteht?

Pyramiden und Agilität koexistieren nicht im selben Universum.

Leider ahmen letztlich alle “agilen” Skalierungsrahmenwerke die Pyramidenform einer Organisation nach. Die Pyramide war und ist die dominante Form der “agilen Skalierung”. Das Fehlverständnis von Organisationsstrukturen verwässerte die Bedeutung von Agilität bis zur Nichtexistenz. Man könnte argumentieren, dass dies nicht die Schuld der Skalierungsrahmenwerke ist, die Rahmenwerke seien lediglich falsch angewandt. Ich bezweifle, dass dies der Fall ist. Doch selbst wenn das wahr wäre, schwächt das nicht mein Argument, dass schlechtes theoretisches Verständnis und schlechte praktische Anwendung der verfügbaren Organisationstheorie fast alle Skalierungsversuche und “agilen Transformationen” in den Sand gesetzt haben. Die meisten agilen Transformationen waren sinnlos und haben enorme Summen an Geld, Aufmerksamkeit und wertvoller Lebenszeit vergeudet.

Doch es gibt Hoffnung. Ich würde diesen Text nicht schreiben, wenn ich nicht eine Idee von einer effektiven Alternative hätte. Das theoretische Fundament gibt es schon — teilweise seit Jahrzehnten. Der kohärente Beta-Kodex bietet die grundlegenden Prinzipien, die adaptive Organisationen möglich machen.

Innerhalb von Beta Organisationen und nur dort werden die agilen Meta-Prinzipien lebendig.

  • Ein kleines Team besitzt ein Produkt oder eine Dienstleistung “Ende-zu-Ende”
  • Jedes Team kann unabhängig von anderen Teams Wert schaffen
  • Kund:innen und deren Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt aller Bemühungen
  • Kontinuierliches und schnelles Marktfeedback garantiert ständige Verbesserung
  • Teams optimieren ihre Arbeitsweise für Flow und kontinuierliche Wertgenerierung

Zeit für ernsthafte Dezentralisierung

Ausgestattet mit fundierter Theorie können Manager, die wirklich eine agile Organisation wollen, den aktuellen Zustand durch ernsthafte Dezentralisierung verändern. Dazu braucht es keine langwierige Veränderungsinitiative. Es braucht ein konsequentes und effektives Arbeiten am System, das die Wertschöpfungsstruktur freilegt und die formelle Struktur dorthin bringt, wo sie hingehört — in die Ebene der Compliance. Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich ist das nicht einfach. Wenn es einfach wäre, hätten sich schon viel mehr Organisationen wirklich verändert. Trotzdem ist es notwendig.

Sozialtechnologien wie Open Space Beta zeigen in angemessenem Detail, wie dieses “Arbeiten am System” in kürzester Zeit gelingen kann, während jeder im Unternehmen eingeladen wird, an der Gestaltung der Zukunft von Zusammenarbeit und Wertschöpfung teilzunehmen.

Es wird deutlich, dass alles, was erforderlich ist, um eine agile Transformation zu erreichen, bereits vorhanden ist. Damit ist auch klar, dass das Zögern, diese Art von Organisation zu gestalten, das einzige verbliebene Hindernis ist.

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