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von Stefan Willuda
06.08.2024
Es ist an der Zeit für einen Paradigmenwechsel in der Führung. Weg von Kontrolle, Steuerung und der Entwicklung von Mitarbeitenden hin zu einem Verständnis von Führung als Systemleistung, bei der Steuerung und Kontrolle als Funktion wirken und Entwicklung zum Ergebnis haben. Die Marktdynamik überfordern klassische Managementansätze. Die übermäßige Fokussierung auf Führungskräfte und ihren Einfluss auf Mitarbeitende übersieht die strukturellen und systemischen Faktoren, die organisationale Leistungserbringung beeinflussen. Der Text schlägt vor, nachhaltige organisationale Veränderungen durch gemeinsame Arbeit am System zu erreichen, mit dem Ziel die Organisation strukturell zu flexibilisieren, um sich leichter an veränderte Bedingungen anpassen können und das menschliche Potenzial aller im Unternehmen zu aktivieren.
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Eine Vielzahl von Herausforderungen beeinflusst sowohl die tägliche Arbeitsweise als auch die langfristige strategische Ausrichtung der meisten Unternehmen. Die Kombination mehrerer weitreichender, miteinander wechselwirkender Trends und Entwicklungen verstärkt diese Herausforderungen.
Besonders auffällig ist die hohe Marktdynamik, die Unternehmen dazu zwingt, sich kontinuierlich selbst zu überprüfen und anzupassen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Märkte verändern sich — sei es durch technologische Fortschritte, veränderte Kundenbedürfnisse, neue Regulierungen oder das Auftreten neuer Wettbewerber. Obwohl dieser Trend nicht neu ist, scheint die Dynamik aus Sicht vieler Unternehmen zuzunehmen. Diese Wahrnehmung deutet darauf hin, dass die Anpassungsgeschwindigkeit vieler Unternehmen bereits jetzt nicht mehr mit der Veränderungsgeschwindigkeit des Marktes Schritt halten kann. Besonders deutsche Unternehmen, insbesondere der Mittelstand, stehen durch diese Dynamik stark unter Druck und kämpfen darum, ihre globale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
Zu den zentralen Herausforderungen zählen die Notwendigkeit zur Digitalisierung, zunehmende Bürokratie sowie Unsicherheit in Bezug auf Ressourcen und Energiepreise als Folge geopolitischer Konflikte und der Klimakrise. Gleichzeitig beklagen die Unternehmen ein sinkendes Engagement der Mitarbeitenden, fehlende Loyalität und einen sich verschärfenden Fachkräftemangel (Burstedde & Tiedemann, 2024, S. 5).
Studien scheinen dieses Empfinden der Unternehmer:innen zu belegen. Viele Beschäftigte seien emotional von ihren Arbeitgebern distanziert. Dies führe zu sinkender Motivation und Produktivität und resultiere in einer höheren Fluktuation. Dieses Phänomen des „Disengagement“ hat Folgen für die Unternehmensleistung und die Innovationsfähigkeit. (Scheibner et al., 2016, 20)
Passen Lösungsrepertoire und Herausforderungen zusammen?
Herausforderungen sind für Unternehmen nicht ungewöhnlich. Im Gegenteil: Sie gehören zum Geschäft. Doch Unternehmen reagieren auf diese Herausforderungen seit Jahrzehnten mit der “Entwicklung” ihrer Führungskräfte. Die Logik lautet: Je besser die Führungskräftekompetenzen — sowohl fachlich als auch sozial — desto besser steht das gesamte Unternehmen da.
Dieser Vorstellung scheinen — vereinfacht gesprochen — drei Annahmen zugrunde zu liegen:
Folglich sollen Führungskräfte nicht nur in der Lage sein, effizient (an) zu leiten, sondern auch die Mitarbeitenden motivieren, inspirieren und ihre Potenziale voll ausschöpfen. Doch damit nicht genug. Die Anforderungen an Führungskräfte schienen in den letzten Jahrzehnten sowohl “von oben” als auch “von unten” weiter zu wachsen: Fachlich versiert sollen Führungskräfte sein, alles im Griff haben und über alles Bescheid wissen, Orientierung bieten, Entscheidungen treffen und die Stimmung in der Abteilung oder im Team hochhalten. Es ist noch gar nicht lange her, da wurden “coachen” und sogar “Sinn geben” auf den Wunschzettel an die perfekte Führungskraft gesetzt. Ganz zu schweigen von den vielen Charaktereigenschaften, die eine gute Führungskraft mitbringen soll.
Der Ursprung der Überhöhung von Führungskräften und ihrer Wirkung auf die Mitarbeitenden liegt, wie vieles, im Taylorismus. Das Scientific Management, das konzeptionelle Fundament des Taylorismus, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Massenproduktion, Industrialisierung und massive Kriegsproduktion an Popularität gewann, legte den Fokus stark auf die Optimierung von Arbeitsabläufen und die Steigerung der Effizienz. Führung wurde dabei als eine Funktion verstanden, die darauf abzielte, Arbeitsprozesse zu überwachen und zu kontrollieren, um sicherzustellen, dass die vorgegebenen Ziele erreicht wurden. Diese Aufgabe sollte von einem damals neuen Beruf übernommen werden: dem Manager.
Dieses Modell, das in seinem zeitlichen Kontext sehr erfolgreich war, prägte das Verständnis von Führung in fast allen Unternehmen über Jahrzehnte hinweg. Es führte zu einer Hierarchisierung und einer strikten Trennung zwischen Entscheidungsfindung und Ausführung, zwischen Denken und Handeln. Dieses Prinzip wurde auch durch den Glauben an die Notwendigkeit des Gehorsams getragen — in Deutschland eine historische Bürde. (Chapoutot, 2021)
Die Anforderungen an den Manager wurden im Laufe der Zeit erweitert und verfeinert. Bis in die Gegenwart hinein werden Führungsstile kategorisiert, erwünschte Charaktereigenschaften aufgelistet und wird Führungskräfteentwicklung forciert.
All diese Entwicklungen fußen auf der Logik, die Führungskraft als zentrale Figur im Unternehmen zu betrachten, der besondere Pflichten zur Anleitung und Entwicklung von Mitarbeitenden zukommt — der Arbeit an den Menschen. Selbst in den letzten Jahrzehnten hielt sich der verengte Blick auf die Führungskraft hartnäckig. Selbst das vermeintlich moderne „Servant Leadership“, das die Rolle der Führungskraft als Diener der Mitarbeitenden beschreibt, und das im Zuge der agilen Bewegung an Popularität gewann, reiht sich in diesen Denkansatz ein. (Stahl et al., 2023)
Obwohl die Anzahl der Veröffentlichungen zu verschiedenen Führungsstilen und den Erwartungen an Führungskräfte stetig zunimmt (siehe Abbildung 1), scheint der Nutzen dieser einseitigen Betrachtung der Führungskraft und ihrer Beziehung zu ihren “Untergebenen [!sic]” (Hanseatisches Institut für Coaching, Mediation & Führung, 2024) erschöpft. Menschen in Führungspositionen können diesen vielfältigen Anforderungen oft nicht gerecht werden. Dies führt zu Überlastung und Stress und verstärkt das Spannungsfeld zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden. Besonders das sogenannte „untere“ und „mittlere“ Management steht unter diesem Druck, da es sowohl den Erwartungen der Vorgesetzten als auch der Mitarbeitenden gerecht werden muss.
Der trivialisierende Fokus auf das individuelle Verhalten der Führungskräfte und die vermeintliche Führer-Folger-Dynamik zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden erweist sich als unzureichend, um den komplexen Herausforderungen moderner Unternehmen zu begegnen, die nicht zuletzt durch die Globalisierung, die Digitalisierung, den Klimawandel und dessen soziale Folgen entstehen.
Abbildung 1: Jedes Jahr wird mehr neuer Inhalt zu “Führungsstil(en)” im Internet veröffentlicht. (Willuda, 2024)
Nicht mehr Desselben!
Ist der Fokus auf Führungskräfte und ihre Beziehung zu den Mitarbeitenden mit all seinen Variationen nicht einfach nur „mehr vom Gleichen“? Systemoptimierung statt Systemüberwindung. Die Grundannahme, dass die „Entwicklung“ von Führungskräften die Leistung des gesamten Unternehmens steigern kann, ist in den letzten Jahrzehnten im Kern unverändert geblieben: „Entwickelte“ Führungskräfte sollen „entwickelte“ Mitarbeitende hervorbringen, die in der Summe die Performance des Unternehmens verbessern. Doch ist diese Annahme wirklich stichhaltig?
Diese Fokussierung auf die Führungskraft als Individuum führte in eine Sackgasse. Dieser Ansatz passt nicht in eine dynamische Welt. Führungskräfte können nicht immer weiter mit Erwartungen überfrachtet werden. Aus Sicht des Unternehmens wiegt noch schlimmer, dass die wechselseitig enttäuschten Erwartungen von Top-Managern an ihre Führungskräfte, von Führungskräften an ihre Mitarbeitenden und von Mitarbeitende an ihre Führungskräfte zu schwelenden Konflikten, fehlender Verantwortungsübernahme und in letzter Konsequenz zu einer Art Arbeitsverweigerung aller am Konfliktsystem Beteiligten führt — ein rasender Stillstand, bei dem jede Partei darauf wartet, dass die andere Partei endlich für eine Entlastung der Situation sorgt.
Der Ansatz, das individuelle Verhalten von Führungskräften und einzelnen Mitarbeitenden in den Mittelpunkt zu stellen, ist auch deshalb unzweckmäßig, weil er systemische und strukturelle Faktoren außer Acht lässt, die einen entscheidenden Einfluss auf die Leistung und das Verhalten der Mitarbeitenden haben. Er berücksichtigt die Komplexität sozialer Systeme nicht ausreichend, in denen Führung entsteht.
Wer nachhaltige Veränderung in Organisationen erreichen möchte, nimmt aus diesem Grund Abstand von der Entwicklung von Führungskräften und Mitarbeitenden und beginnt stattdessen mit den Menschen zusammen an den Umständen der gemeinsamen Leistungserbringung zu arbeiten.
Paradigmenwechsel statt Führungskräfteentwicklung
Nach Jahrzehnten der Optimierungsversuche dieses mitarbeiterfokussierten Ansatzes, ohne dass sich die Lage der Organisationen im Kontext der Dynamik und multipler Krisen erkennbar verbessert hätte, ist es an der Zeit für einen Wechsel der Perspektive. Beginnend ganz grundsätzlich bei dem Begriff “Führung”.
Forschungsergebnisse aus der Soziologie und Systemtheorie widersprechen dem unterkomplexen Verständnis von Führung als bloßer Führer-Folger-Beziehung, wie es zum klassischen Management gehört. Die strikte Trennung zwischen Denken und Handeln ist längst nicht mehr sinnvoll — weder für Organisationen noch für die Gesellschaft als Ganzes.
Die insbesondere von Niklas Luhmann geprägte Systemtheorie bietet ein tiefgreifend verändertes Verständnis für die Funktionsweise von Organisationen als soziale Systeme.
Dieser systemtheoretisch fundierte Ansatz eröffnet neue Möglichkeiten für die Gestaltung von Organisationen, die nicht nur flexibler und anpassungsfähiger, sondern auch nachhaltiger, verschwendungsärmer und widerstandsfähiger sind.
Organisationen, die ein systemtheoretisch fundiertes Verständnis von Führung umsetzen, sind nicht mehr von den zentralen Entscheidungen einzelner Führungskräfte abhängig. Stattdessen entwickeln sie flexible Strukturen, in denen Führung situativ und kontextbezogen entstehen kann. Führung — oder vielmehr die Erwartung von Führung — ist nicht fest an eine bestimmte Position gekoppelt, sondern wird als dynamische Funktion betrachtet, die von verschiedenen Personen oder Teams übernommen werden kann, je nach den Erfordernissen der Situation. Wenn Führung explizit wird, ist sie das Ergebnis von Vereinbarungen gleichberechtigter Akteure innerhalb der Organisation.
Systemtheoretisch fundierte Organisationen haben die langsame und teure zentrale Steuerung durch wenige Führungskräfte überwunden und sind strukturell so gestaltet, dass sie sich kontinuierlich an veränderte Bedingungen anpassen können. Sie sind im Kontext hoher Dynamik langfristig erfolgreicher, richten ihre Strategien und Prozesse immer wieder neu aus und bringen kontinuierlich Innovationen hervor. Dabei zeichnen diese Organisationen sich durch bemerkenswert wenig Bürokratie und Formalismus aus. So viel wie rechtlich erforderlich, doch so wenig wie möglich.
Führung jenseits von Command and Control
Das hier skizzierte Bild einer Organisation, die ihre Gestaltung auf einem anderen Führungsverständnis aufbaut und folglich auf Pyramiden aus Führungskräften verzichtet, mag radikal oder gar utopisch klingen. Dies zeigt uns, wie schwer uns bekannte theoretischen Modelle — etwa von “Führung” — wiegen und wie erheblich unsere Vorstellungskraft von unserem Theorieverständnis limitiert wird. Höchste Zeit also, unser Organisationsgestaltungsrepertoire zu erweitern.
Im folgenden Betrachten wir abrissartig bedeutende Beiträge zur Theoriearbeit rund um den Führungsbegriff und dessen praktischen Nutzen für die Organisationsgestaltung — jenseits des Taylorismus.
Die Luhmann’sche Systemtheorie — Organisationen sind Kommunikation
Im Gegensatz zu dem betriebswirtschaftlich dominierten Führungsmodell des Scientific Management bestehen Organisationen nach Luhmann — vereinfacht — nicht aus Individuen, sondern aus Kommunikationen, die durch spezifische Regeln und Strukturen zusammengehalten werden. Auch sind Organisationen nicht maschinengleich. Sie können nicht durch externe Eingriffe gesteuert werden, sondern sind Systeme, die sich selbst organisieren und reproduzieren. (Luhmann, 1987) Führung wird in diesem Kontext nicht als Versuch verstanden, das Verhalten einzelner Mitarbeitender zu steuern, sondern ist der Vorgang der Gestaltung von Kommunikationsstrukturen, die die Ziele der Organisation unterstützen. Eine Leistung, die von allen erbracht wird. (Baecker, 2003)
Dieser Perspektivwechsel verändert den Blick auf Führungskräfte. Eine Führungskraft wird nicht als isolierte Figur betrachtet, auf dessen Schultern das Schicksal des Unternehmens ruht. Stattdessen wird Führung als eine Funktion des Systems verstanden, die von den Strukturen und Prozessen der Organisation abhängt und in der alle Mitarbeitenden eine Rolle einnehmen. Führung und die Führungskraft werden voneinander entkoppelt. Eine Führungskraft ist, in Abgrenzung zur Führung, eine Person auf einer bestimmten organisationalen Position. Ihre Existenz allein sagt noch nichts über Führung aus. Führung entsteht nicht durch Führungskräfte!
Wenn formellen Führungskräften in diesem Verständnis eine Aufgabe zukommt, dann die, Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen sich die Kommunikation innerhalb der Organisation optimal entwickeln kann. Dies erfordert ein tiefes Verständnis für die Dynamik sozialer Systeme und die Fähigkeit sowie die Autorisierung, Strukturen und Prozesse so zu gestalten, dass sie die Selbstorganisation und die kollektive Intelligenz der Organisation fördern.
Kompliziert oder Komplex?
Gerhard Wohland unterscheidet zwischen Kompliziertheit und Komplexität im Kontext der Organisationsgestaltung. Während komplizierte Probleme durch Planung und Kontrolle gelöst werden können, erfordern komplexe Probleme flexible und adaptive Lösungsansätze. In einem komplexen Umfeld, in dem unvorhersehbare Veränderungen und Unsicherheiten die Regel sind, versagen laut Wohland traditionelle Führungsansätze, die auf Planung und Kontrolle beruhen. Stattdessen erfordern komplexe Systeme Führungsansätze, die auf die Förderung von Kreativität, Flexibilität und Eigenverantwortung abzielen. (Wohland et al., 2004, 26; Wohland, 2014)
Macht und ihre Quellen — Organisationsphysik
Niels Pfläging hat das Konzept der „Organisationsphysik“ entwickelt, das Organisationen ebenfalls als System beschreibt. Macht in Organisationen ist nach Pfläging eine Funktion der Organisationsstruktur und nicht einzelner Personen. In seinem Buch „Organisation für Komplexität“ beschreibt Pfläging, wie traditionelle, hierarchische Strukturen in komplexen Umgebungen versagen und wie stattdessen netzwerkartige, dezentrale Strukturen erforderlich sind, um den Herausforderungen der heutigen Arbeitswelt gerecht zu werden. (Pfläging, 2014)
Pfläging argumentiert, dass Macht in Organisationen nicht als etwas verstanden werden sollte, dass in den Händen weniger Führungskräfte konzentriert ist, sondern als dynamisches Phänomen, das durch das System fließt, sich kontextsensibel verändert und das durch die Interaktionen innerhalb der Organisation beeinflusst wird. Formelle Führungskräfte sollten daher nicht versuchen, Macht über andere auszuüben, sondern die Zusammenarbeitsstrukturen so gestalten, dass die Organisation als Ganzes funktioniert.
Angelehnt an die Gedanken Luhmanns, dass Organisationen aus Kommunikation bestehen und Kommunikation Zwecke verfolgt, können mithilfe des Modells von Pfläging drei Kommunikationszwecke, die jeweils untrennbar mit Führung und dessen zu Grunde liegender Macht verbunden sind, herausgearbeitet werden. So ist ein Zweck für Kommunikation die Sicherstellung von Rechtlichkeit, ein weiterer die Befriedigung psychosozialer Bedürfnisse der Individuen in der Organisation und zum Dritten, die Wertschöpfung, die ultimativ die Existenz einer Organisation sichert.
Jede dieser Kommunikationszwecke erzeugt eine eigene Organisationsstruktur, die gleichzeitig und miteinander wechselwirkend in der Organisation existieren. Die formelle Struktur — Rechtlichkeit -, die informelle Struktur — psychosoziale Bedürfnisse — und die Wertschöpfungsstruktur. Jede dieser Organisationsstrukturen bildet eine Quelle der Macht aus, mit der Führung entstehen kann. Positionsmacht sichert in der formellen Struktur die Durchsetzungsfähigkeit formell autorisierter Manager:innen. Einfluss ermöglicht in der informellen Struktur das wirksame Handeln ihrer Akteure und in der Wertschöpfungsstruktur ist Reputation die Quelle der Macht. Wer etwas kann, darf entscheiden. (Pfläging et al., n.d.)
Dezentralisierung und Partnerschaftlichkeit
Mary Parker Follett und Riane Eisler haben entscheidende Beiträge zu einem alternativen Verständnis von Führung geleistet, das auf Partnerschaft und Kooperation anstelle von Dominanz basiert. Diese Perspektive stellt die traditionelle Auffassung von Führung als einseitige Machtausübung und Kontrolle in Frage und betrachtet diese vielmehr als ein kollektives, soziales Phänomen.
Mary Parker Follett, oft als eine der „Mütter“ des modernen Managements bezeichnet, war eine Vordenkerin, die sich intensiv mit der Idee der „kollektiven Führung“ auseinandersetzte. Follett betrachtete Führung als einen dynamischen Prozess, der aus der Interaktion und Kooperation zwischen Menschen entsteht. Für sie war Führung nicht die Fähigkeit, andere zu dominieren, sondern die Fähigkeit, durch die Kraft der Gruppe zu leiten. Sie prägte den Begriff des „Power-with” im Gegensatz zum traditionellen „Power-over“-Ansatz. Folletts „Power-with“ betont die gemeinsame Macht, die durch Kooperation und das Zusammenwirken aller Beteiligten entsteht.
Follett war davon überzeugt, dass Führung im Wesentlichen ein sozialer Prozess ist, bei dem es darum geht, kollektive Energie zu mobilisieren, um gemeinsam gesteckte Ziele zu erreichen. Follett entwickelte damit schon vor dem Aufkommen des Taylorismus die Grundlagen für eine systemtheoretisch fundierte Führung, die darauf abzielt, Bedingungen zu schaffen, unter denen Zusammenarbeit erfolgreich stattfinden kann. (Follett, 1940)
Riane Eisler ergänzt Folletts Ansatz durch die Unterscheidung von Partnerschaftssystemen und Herrschaftssystemen und führt damit Gestaltungsprämissen sozialer Systemen ein. In einem Herrschaftssystem, so Eisler, wird Führung als Macht über andere verstanden, was zu Unterdrückung und Konkurrenz führt. Ein Partnerschaftssystem hingegen fördert Kooperation, gegenseitige Unterstützung und das Teilen von Macht. Eisler argumentiert, dass in einem solchen System Führung nicht als Privileg weniger, sondern als gemeinsame Verantwortung aller verstanden wird. (Eisler, 2005)
Eislers Ansatz legt nahe, dass nachhaltige Wertschöpfung und organisationaler Erfolg nur in einem Umfeld gedeihen können, das auf Respekt, Zutrauen und gegenseitiger Unterstützung basiert. Führungskräften kommt in einer partnerschaftlich orientierten Organisation die Aufgabe zu, das Potenzial der Gruppe zu maximieren, indem sie Kooperation und kollektive Entscheidungsfindung fördern. Sie selbst gestalten dabei die Rahmenbedingungen für Kooperation. Sie binden die eigentliche Entscheidung dabei nicht an sich.
Führung als soziales Phänomen — die Metatheorie
Wenn wir die Erkenntnisse moderner Theorien und Konzepte wie die Systemtheorie, die Organisationsphysik und die Ideen von Follett, Eisler und weiteren zusammenbringen, wird eine Metatheorie erkennbar, die Führung als ein soziales Phänomen begreift, das in einem komplexen Netzwerk von Interaktionen und Kommunikationen eingebettet ist. Führung ist demnach weniger eine Frage der individuellen Fähigkeiten einer Person als vielmehr eine Funktion der organisationalen Strukturen.
Diese Metatheorie der Führung legt den Fokus auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen, unter denen Führung stattfindet. Anstatt das Verhalten einzelner Führungskräfte oder Mitarbeitender zu optimieren, werden Strukturen und Prozesse so gestaltet, dass sie die Selbstorganisation und kollektive Intelligenz der Organisation fördern. Es wird angenommen, dass Menschen sich zweckmäßig und intelligent an ihre Umwelt anpassen. Daher ist die Gestaltung des Arbeitskontextes wirkungsvoller als die unmittelbare Arbeit an den Individuen.
Prinzipien der Systemgestaltung — der Beta Kodex
Auf Grundlage der skizzierten Metatheorie und empirischer Forschung des Beyond Budgeting Round Table fasst der Beta-Kodex zwölf Prinzipien zur ganzheitlichen Systemgestaltung zusammen, die darauf abzielen, Führung als kollektive Leistung zu stärken. Diese Prinzipien betonen die Bedeutung von Transparenz, Teilhabe und dezentraler Machtverteilung. Der Beta-Kodex fordert Organisationen dazu auf, sich von starren formellen Hierarchien als alleinigem Organisationsprinzip zu lösen und stattdessen flexible, adaptive Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen, schnell auf Veränderungen zu reagieren und die kollektive Intelligenz der Mitarbeitenden zu nutzen. (Beta Kodex)
Eine zentrale Konsequenz der Anwendung der Beta-Kodex-Prinzipien in einer Organisation ist die systematische Dezentralisierung von Entscheidungen. Diese werden nicht mehr von wenigen Führungskräften im „Zentrum“ der Organisation getroffen, sondern dort, wo das Wissen und das Können am größten sind: von Teams an der „Peripherie“, die direkten Marktkontakt haben. Diese Teams agieren eigenständig auf der Grundlage aktueller Marktinformationen und transparenter Geschäftskennzahlen. Wie diese Dezentralisierung gestaltet werden kann, wird im Konzept des Zellstrukturdesigns (Pfläging & Hermann, 2020) beschrieben.
Die Dezentralisierung steigert nicht nur die Effizienz, sondern auch die Innovationsfähigkeit der Organisation, da Mitarbeitende in die Lage versetzt werden, ihre Expertise direkt in Entscheidungsprozesse einzubringen.
Praktische Beispiele
Die Konzepte, die der skizzierten Metatheorie der Führung zu Grunde liegen, fußen auf Beobachtungen und empirischer Forschung an real existierenden Organisationen. Es gibt zahlreiche Beispiele von Unternehmen, die auf der Grundlage eines systemtheoretisch fundierten Führungsbegriff gestaltet wurden und die als Forschungsobjekte für moderne Organisationsgestaltung herangezogen wurden. Hier folgt eine kleine Auswahl.
Die Svenska Handelsbanken zeichnen sich durch ihre Dezentralisierung, den für Banken unüblichen Verzicht auf Anreizsysteme und die hohe Autonomie ihrer Filialen aus. Die Bank ist damit besonders stabil und profitabel. (Handelsbanken)
Die Vorteile der Dezentralisierung hat auch der DM Drogerie Markt für sich erkannt. Ihr Gründer und langjähriger Geschäftsführer Götz Werner stattete die Filialen mit hoher Autorisierung und Autonomie aus und gestaltete das Unternehmen mit einem humanistischen Führungsverständnis. Das Unternehmen entwickelte sich zum deutschen Marktführer unter den Drogeriemärkten und wächst weiterhin stark. (invidis, 2022; dm Drogeriemarkt)
Das niederländische Pflegeunternehmen Buurtzorg versteht Führung als Systemleistung. Pflegekräfte arbeiten in kleinen, selbstorganisierten Teams, die ihre Arbeit eigenständig planen und durchführen. Es gibt keine traditionellen Führungskräfte, die den Arbeitsprozess überwachen und steuern. Die Verantwortung für die Pflege liegt direkt bei den Pflegekräften. Das Unternehmen ist mit diesem Ansatz überdurchschnittlich effizient, und erreicht regelmäßig Höchstbewertungen bei der Zufriedenheit der Patient:innen und Mitarbeiter:innen. Gleichzeitig wächst das Unternehmen rasant und ist sehr profitabel. (Hennessey, 2017; Diller, 2021)
Morning Star, ein führendes Unternehmen in der Tomatenverarbeitung in den USA, ist so organisiert, dass Führung nicht über eine formale Hierarchie zum Ausdruck kommt. Stattdessen arbeiten die Mitarbeitenden in selbstorganisierten Teams, die ihre Ziele und Prozesse eigenständig festlegen. Führung findet hier dezentral statt, wobei die Mitarbeitenden die Verantwortung für ihre Arbeit und die Zusammenarbeit im Team übernehmen. Durch die Dezentralisierung der Entscheidungsfindung und die Förderung der Selbstorganisation hat Morning Star eine hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit erreicht. Dies hat nicht nur zu einer höheren Effizienz und Produktivität geführt, sondern auch zu einer stärkeren Identifikation der Mitarbeitenden mit dem Unternehmen und zu einem höheren Maß an Innovation. Morning Star ist darüber hinaus für seine robuste Lieferkette geschätzt. (Morning Star; Hamel, 2011)
Das chinesische Unternehmen Haier mit seinen über 80.000 Mitarbeitenden hat sich in den letzten Jahren von einem traditionell zentralisiert gesteuerten Unternehmen zu einem Netzwerk von über 4.000 Mikrounternehmen entwickelt. Jedes dieser Mikrounternehmen ist für einen bestimmten Teil der Wertschöpfungskette verantwortlich und agiert weitgehend autonom. Dieser Gestaltungsansatz optimiert das Wertschöpfungssystem als Ganzes und fördert Führung als dezentrales Phänomen in den einzelnen Unternehmen und deren Teams. Es erhöhte die Innovationskraft und die Anpassungsgeschwindigkeit des Großunternehmens. (Minnaar, 2018; McKinsey, 2021)
Die Liste von erfolgreichen Unternehmen, die auf die eine oder andere Art und Weise ein systemtheoretisch fundiertes Führungsverständnis in ihre Organisationsgestaltung integriert haben ließe sich fortführen. Doch was würde das bringen? Die Arbeit mit Beispielen für eine alternative Systemgestaltung haben sich in meiner beraterischen Praxis und in der Praxis meiner Kolleg:innen als unwirksam erwiesen. Zu schnell folgen die Einwände der Empfänger:innen: “Das geht bei uns nicht.”, “Dafür haben wir nicht die richtigen Mitarbeiter:innen.”, “Das kann man mit unserem Management nicht machen.”, und so weiter. Doch auf die Beispiele zu verzichten war auch keine Option. Zu bedrohlich lauert der Vorwurf der “grauen Theorie”, falls auf Beispiele, in denen ein anderes Führungsverständnis effektiv ist, verzichtet wird.
Die andersartige Systemgestaltung ist eben voraussetzungsvoll. Sie bedarf der Erkenntnis über die Notwendigkeit zur nachhaltigen Veränderung und der Theoriearbeit, um diese Veränderung herbeizuführen. Doch zuallererst bedarf es der Prüfung des eigenen Menschenbilds.
Das Menschenbild als Grundlage der Systemgestaltung
Unsere Sicht auf Menschen und darauf, was wir ihnen zutrauen, hat einen tiefgreifenden Einfluss auf die Gestaltung von Organisationen. Der Paradigmenwechsel in der Führung — weg vom Fokus auf die Arbeit am Individuum hin zur kollektiven Arbeit am System — basiert auf einem bestimmten Menschenbild. Das berühmte Zitat von Freiherr vom Stein bringt es auf den Punkt: „Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft hemmt sein Reifen.“ Ohne Zutrauen werden Menschen kaum die Bereitschaft zeigen, sich verantwortlich zu verhalten.
Götz Werner, der verstorbene Gründer des oben genannten dm Drogerie Markt, hat dieses Zitat in das Zentrum seines Führungsverständnisses gestellt. Er vertrat die Auffassung, dass Menschen grundsätzlich vertrauenswürdig sind und über ein hohes Maß an Urteilsvermögen und Eigenverantwortung verfügen. Wenn wir von einem zutrauenden Menschenbild ausgehen, können wir Organisationen gestalten, die die Mitarbeitenden dazu einladen, Initiative zu ergreifen und Verantwortung zu übernehmen. Wir können den Menschen Geschäftszahlen und strategische Entscheidungen anvertrauen, sie ihre Kolleg:innen selbst rekrutieren und die sogar die Gehälter im Team festlegen lassen.
Die Schaffung von Rahmenbedingungen für die Dezentralisierung dieser unternehmerischen Entscheidungen führt zu einer Kultur der Selbstorganisation, die eine effektive Antwort auf die Herausforderungen einer schnelllebigen und unsicheren globalen Wirtschaft darstellt.
Halten wir Menschen im Gegensatz dazu für grundsätzlich des Zutrauens unwürdig und für kontrollbedürftig, werden bewusst und unbewusst Organisationsstrukturen entstehen, die Kontrolle und Überwachung betonen. Diese Strukturen führen zu einem Teufelskreis, in dem das unerwünschte Verhalten nicht trotz sondern aufgrund der Steuerung und Kontrollen beobachtbar wird. Dadurch bestätigt sich wiederum die Vorstellung vom Wesen des Menschen in Organisationen. Die Macht des “Confirmation Bias” — ein Bestätigungsfehler. (Nickerson, 1998)
Selbstverständlich bleibt es nicht aus, dass Menschen sich vereinzelt auch in einer zutrauenden Organisationsstruktur rücksichtslos oder unbedacht verhalten. Doch muss dieses Verhalten nicht als Bestätigung eines defizitorientierten Menschenbilds verstanden werden, sondern kann auch als Ausnahme eines sonst verantwortungsbewussten Verhaltens gelesen werden.
Die Bedeutung des Menschenbildes mit seinen Folgen für unsere Wahrnehmung und Beurteilung der Realität lässt sich auch mit der erkenntnistheoretischen Position des Konstruktivismus begründen. Unsere Vorstellung von der Realität erzeugt die Realität. Bevor nachhaltige Organisationsgestaltung gelingt, ist die Prüfung des Menschenbildes erforderlich. Beispiele anderer Unternehmen, die auf Steuerung verzichten, bleiben sonst unnachahmbar.
Systemgestaltung als Führungsleistung
Ist die Erkenntnis erst gereift, dass wir in den Organisationen die Bedingungen für ein Miteinander-Füreinander-Leisten verbessern müssen, statt die Menschen in der Organisation entwickeln und steuern zu wollen, rückt die konkrete Systemgestaltung in den Fokus: Was bedeutet “Arbeit am System”?
Um eigenverantwortliches, dezentrales Entscheiden und Handeln zu stärken kann die erste Frage lauten: “Was gilt es nun abzuschaffen, was Verantwortungsübernahme für Wertschöpfung verhindert und dass die Aufmerksamkeit vom Markt und Kunden weg, verschwenderisch nach innen in die Organisation hinein lenkt?” Dieser Ansatz des systematischen Abschaffens unterscheidet sich bereits von den üblichen Ansätzen der Veränderungsarbeit, die eher hinzufügen und damit den Raum für eigenständiges Handeln verengen.
Was es tatsächlich abzuschaffen gilt, und in welcher Reihenfolge wird von Organisation zu Organisation unterschiedlich ausfallen. Allen Organisationen gleich hingegen ist die Notwendigkeit die Autorisierung für dieses Handeln an alle Freiwillig Mitgestaltenden im Unternehmen synchron zu übertragen, um in dieser Veränderungsarbeit bereits den angestrebten Paradigmenwechsel erlebbar werden zu lassen. Formell autorisierte (Top-)Manager:innen stoßen dieses Vorgehen an, indem sie Menschen in der Organisation wieder und wieder von ihrer Gestaltungsabsicht berichten, dessen Notwendigkeit begründen und zur Mitgestaltung einladen. Wer dieser Einladung folgt, ist autorisiert zur Systemgestaltung.
Dies ist ein fundamentaler Unterschied zur üblicherweise erlebten Unmöglichkeit, die Rahmenbedingungen der eigenen Arbeit zu verändern. Als “Organisationshygiene” kann diese Praxis des “Ausmistens” alter Vorgaben, Regeln und Strukturen verstetigt werden zur nachhaltigen Freilegung der Wertschöpfung. (Pfläging & Hermann, 2015; Sechser)
Ganz konkret schaffen Unternehmen, die sich auf diesen Pfad begeben beispielsweise zentrale Budgets und Zielvorgabeprozesse ab inklusive aller Bonusprogramme. Sie beenden alle Programme für zentral gestütztes Mitarbeiter:innen-Feedback und bieten alle nicht gesetzlich vorgeschriebenen Ausbildungsprogramme nur noch freiwillig an. Sie schaffen Reisekostenrichtlinien, Einkaufsprozesse mit Freigabestufen und zentrales Reporting ab, falls dieses nicht ausdrücklich der dezentralen Entscheidungsfindung dient. Teams dürfen sich entsprechend der Maxime “Wer miteinander sprechen muss, ist ein Team” frei formen. Die Grenzen von Abteilungen und Bereichen, die interne, nicht marktorientierte Referenzsysteme bilden, werden zum Wohl eines Netzwerks aus Teams mit intern explizit vereinbarten Leistungsbeziehungen aufgelöst. Der Abnahmezwang von Leistungen, wie etwa für Personal- oder IT-Leistungen wird aufgehoben. Leistungen und Gegenleistungen werden zwischen den anbietenden und abnehmenden Teams für eine Laufzeit von einem Jahr vereinbart und kontinuierlich überprüft. An die Stelle des zentralen Controllings tritt dezentrale Selbststeuerung auf der Grundlage von transparenten Kennzahlen über die Leistungserbringung des eigenen Teams und der Gesamtorganisation. Dies schließt Umsätze, Vorleistungen und Margen mit ein.
Jede dieser Veränderungen führt zu einer ganzen Reihe von weiteren Veränderungsbedarfen. So ergeben sich unvermeidlich Fragen zur Kostenkontrolle, wenn Budgets abgeschafft werden. Diese und alle weiteren Fragen sind auf der Grundlage universeller Gestaltungsprinzipien — wie etwa dem Beta Kodex — zusammen mit den Betroffenen zu beantworten. Diese Arbeit der Systemgestaltung ist nachhaltige Veränderungsarbeit — prinzipienbasiert und mit allen Freiwilligen gleichzeitig. (Willuda & Holtschke, 2024)
Die Durchführung und Koordination dieser Systemgestaltung erfolgt ebenfalls mit einem inklusiven und transparenten Vorgehen. Das Dreiphasenmodell — Unfreeze, Change, Refreeze — Kurt Lewins (Lewin, 1947) in Kombination mit modernen Beteiligungsverfahren, wie dem Open Space Ansatz und der Gestaltungstechniken für Komplexität — agile Organisationsentwicklung — haben sich in der Praxis vielfach bewährt.
Ein konsistentes Rahmenwerk für diese konzentrierte “Arbeit am System” bietet das unter Creative Commons veröffentlichte Open Space Beta Vorgehen. (Hermann & Pfläging, 2020) Einladungs- und prinzipienbasiert wird dabei in wenigen Wochen die wesentliche Systemgestaltung vorgenommen, um anschließend das System in eine neue Stabilität gelangen zu lassen. Dieses Verfahren kann nach einer Phase der Integration wiederholt werden.
Da es sich bei diesem Vorgehen um einen synchronen Ansatz handelt, bei dem alle freiwilligen Menschen in der Organisation gleichzeitig zur Veränderung beitragen, bedarf es keines unzweckmäßigen Roll-Outs und auch keines geplanten Change-Managements.
Ohne Steuernden aber nicht ohne Steuerung
Wir müssen uns bei dieser kollektiven Arbeit am System bewusst machen, dass wir zwar die Steuerung, Kontrolle und Entwicklung von Menschen durch andere Menschen in der Hierarchie einstellen, nicht aber die Funktion der Steuerung und Kontrolle verlieren, ebensowenig, wie das Ergebnis der menschlichen Entwicklung. Die Steuerung und Kontrolle erfolgen in einer Organisation, die als Netzwerk von autonomen Teams strukturiert ist, gleich mehrfach:
Erstens kontrollieren sich die Kolleg:innen im Team kollektiv. In letzter Konsequenz muss ein Team den Preis der eigenen Existenz durch Umsatz erwirtschaften. Gelingt das nicht, muss sich ein Team auflösen (siehe Beispiel Haier). Dies führt zur Notwendigkeit der Leistungserbringung, die den Teammitgliedern fortlaufend bewusst ist. Die Teammitglieder kennen die eigenen Geschäftszahlen und die des gesamten Unternehmens. So überwachen sie nicht nur die Qualität der eigenen Leistung, sondern auch das ökonomische Ergebnis dieser. Teams steuern nach, falls das eigene Angebot oder die Qualität nicht zu den Anforderungen passt.
Zweitens kontrolliert und steuert sich das Netzwerk aus Teams wechselseitig. (Weichselbaum, 2020) Wird die Leistung eines Teams nicht mehr benötigt, oder kann die Leistung im Markt günstiger bezogen werden, werden Leistungsvereinbarungen zwischen den Teams aufgelöst. Die Teams mit nicht mehr benötigter Leistung sind gezwungen bessere Leistungen zu erbringen oder sich aufzulösen. Diese Dynamik tritt auch in Kraft, wenn Teamleistungen nicht den Qualitätsansprüchen der Abnehmer-Teams entsprechen.
Drittens und am Bedeutendste: Da das Netzwerk aus Teams so gestaltet wird, dass die allermeisten Teams unmittelbar im Kontakt zu Kunden stehen, etabliert sich ein “Marktzug” (Pfläging & Hermann, 2020), der die Teams unmittelbar steuert und kontrolliert. Dieser Marktzug setzt sich vom Kunden über die Peripherie der Organisation in dessen Zentrum fort.
Diese Dynamik kennen wir aus dem freien Markt, in dem zwischen den meisten Unternehmen keine Abnahmezwänge bestehen und Angebot und Nachfrage Steuerungssignale an die Marktteilnehmer senden. Diese Logik funktioniert innerhalb einer Organisation unter den entsprechenden Voraussetzungen ebenso wie außerhalb der Organisation.
Es sei noch einmal die Notwendigkeit betont, diese Systemgestaltung durch formelle Macht zu autorisieren. Die Abschaffung von Prozessen, Regeln oder Organisationsstrukturen ohne hinreichende Autorisierung und ohne ein geteiltes Verständnis für dessen Notwendigkeit führt zur “Bestrafung” durch die Abwehrkräfte der Organisation — etwa durch die Einkaufsabteilung, falls eine Bestellung ohne Einkaufsprozess ausgelöst oder durch die Finanzabteilung, falls ein Budgetplan nicht wie gefordert eingereicht wurde.
Wird die Systemgestaltung ernsthaft und konsequent umgesetzt, entstehen positive Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Organisationsstrukturen (siehe Organisationsphysik). Die formelle Organisationsstruktur befreit die Wertschöpfung von unwirtschaftlicher Beschäftigung sowie Störungen und ermöglicht es den Könner:innen mit Reputation, ihre Arbeit besser und eigenständiger zu erledigen. Dies erzeugt eine positive Resonanz in der informellen Struktur: Menschen zeigen sich motiviert, kreativ und engagiert — nicht, weil Führungskräfte sie dazu anregen, sondern weil ihre natürliche Motivation nicht länger durch hinderliche Regelungen unterdrückt wird. Diese gesteigerte Leistungsfähigkeit der Teams wird von den Kunden am Markt wahrgenommen und geschätzt. Das spiegelt sich positiv in den ökonomischen Kennzahlen der Wertschöpfung wider und signalisiert den formal autorisierten Manager:innen, dass der eingeschlagene Weg erfolgreich ist und fortgesetzt werden sollte. (Willuda, 2020)
Unternehmen, die ihren Mitarbeiter:innen offensichtlich etwas zutrauen und die die Rahmenbedingungen für echte Zusammenarbeit schaffen und kontinuierlich verbessern, haben weniger Herausforderungen qualifizierte Kolleg:innen zu gewinnen und zu halten. Die Identifikation mit der Unternehmung wird durch das wiederkehrende Erleben von Werkstolz auf der Grundlage der eigenen Arbeit gestärkt, die Loyalität nimmt zu.
Mitarbeitende, die entlang ihrer Könnerschaft frei agieren können und die unmittelbar mit dem Markt verbunden sind, zeigen eine höhere Kreativität im Umgang mit Überraschungen und unvorhergesehenen Marktentwicklungen, die nicht selten Raum für Innovation und Diversifizierung aufschließen. So gestaltete Unternehmen werden als flexibler und anpassungsfähiger wahrgenommen. Sie sind gebaut für eine Welt der Dynamik.
Schlussbetrachtung
Die hier dargestellten Überlegungen zeigen, dass ein Paradigmenwechsel in der Führung notwendig ist, um den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt gerecht zu werden. Dieser Paradigmenwechsel erfordert eine Abkehr von traditionellen Führungsmodellen, die auf Kontrolle und Steuerung durch Manager:innen basieren, hin zu einem Verständnis von Führung als sozialem Phänomen.
Durch ein Fundament in der Systemtheorie, die Integration partnerschaftlicher Führungskonzepte und die Besinnung auf ein positives Menschenbild können Organisationen geschaffen werden, die nicht nur effizient und innovativ sind, sondern auch die Bedürfnisse und Potenziale ihrer Mitarbeitenden für die Wertschöpfung nutzbar machen. Win-Win!
Wer Führung als Systemfunktion flächendeckend in der gesamten Organisation erleben möchte, wird gestützt auf formelle Autorisierung systemgestaltend tätig werden. Im Zentrum steht die Gestaltung von Rahmenbedingungen, die es allen Mitarbeitenden ermöglichen, ihr Bestes zu geben. Nicht ausdrücklich durch rechtliche Bestimmungen begründete zentrale Vorgaben werden ersetzt durch zweckmäßige dezentrale Vereinbarungen zwischen und innerhalb der Teams. Bürokratie nimmt ab, Selbstwirksamkeitserfahrung und Werkstolz nehmen zu.
In einer Welt, die sich durch schnelle Veränderungen und hohe Unsicherheiten auszeichnet, ist das Verständnis von Führung als soziales Phänomen besonders effektiv. Indem Organisationen ihre Strukturen an ein systemtheoretisch fundiertes Führungsverständnis anpassen, können sie nicht nur ihre eigene Leistungsfähigkeit steigern, sondern auch einen nachhaltig positiven Beitrag für die Gesellschaft leisten.
Die wichtigste und zugleich nobelste Führungsleistung in einer dynamischen Welt ist die Arbeit am System. Die Arbeit am Menschen ist verzichtbar.
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